BEITRAG

 

Präimplantationsselektion

In mindestens 57 Zentren wird die Präimplantationsdiagnostik durchgeführt. Mit ihr werden im reproduktionsmedizinischen Labor erzeugte Embryonen vor einer Implantation in die Gebärmutter auf bestimmte genetische Merkmale oder Chromosomenstörungen hin untersucht, um sie im Falle eines positiven Befundes zu selektieren. Diese 57 Zentren verteilen sich über den ganzen Globus von Argentinien über Taiwan bis Finnland und von der Ukraine über die Türkei und Israel bis in die USA. Auch sechs deutsche Kliniken sind dabei.

Diese Einrichtungen melden ihre Daten über Maßnahmen und Ergebnisse der Präimplantationsdiagnostik an die Europäische Gesellschaft für Humanreproduktion und Embryologie (ESHRE). Ein internationales Team von Reproduktionsmedizinern und Genetikern wertet die Daten aus und berichtet seit zehn Jahren jährlich in der in Oxford erscheinenden Zeitschrift Human Reproduction. Die letzte Auswertung, die das Jahr 2007 erfasst, erschien im November 2010.

Diese Daten enthüllen das Ausmaß der Selektion, die mit der Präimplantationsdiagnostik verbunden ist. Sie zeigen, dass auf einen Embryo, der es 2007 nach einer Präimplantationsdiagnostik bis zur Geburt schaffte, 33 Embryonen kamen, die der Diagnostik zum Opfer fielen. Die einzelnen Schritte dieser Präimplantationsselektion werden in der Auswertung minutiös aufgeführt. Aus 56.325 befruchteten Eizellen entstanden 40.713 Embryonen. Ihnen wurden 31.867 Gewebeproben zur Biopsie entnommen, 28.998 wurden diagnostiziert und 10.084 als implantierbar eingestuft. In eine Gebärmutter implantiert wurden letztlich 7.183 Embryonen. Erfolgreich war die Implantation aber nur in rund 22 Prozent der Fälle, das heißt sie führte zu 1.609 Schwangerschaften. Diese wiederum hatten 977 Geburten mit 1.206 Kindern zur Folge. Auf ein Kind kommen mithin 33,7 selektierte und verworfene Embryonen.

Die Daten der Europäischen Gesellschaft für Humanreproduktion und Embryologie informieren nicht nur über das Ausmaß der Selektion von der Befruchtung bis zur Geburt, sondern auch über die Geschlechtsselektion, den Fetozid und die Pränataldiagnostik, die manche Befürworter der Präimplantationsdiagnostik durch diese Diagnostik glauben vermeiden zu können, die aber 2007 in rund 25 Prozent der Fälle dennoch durchgeführt wurde, um die Diagnose abzusichern. In der politischen Debatte über Zulassung oder Verbot der Präimplantationsdiagnostik werden diese Daten bisher ignoriert, obwohl bereits die Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin des 14. Deutschen Bundestages in ihrem Schlussbericht 2002 auf Daten der ESHRE aus dem gleichen Jahr zurückgriff.

Sie stellte fest, dass „für jedes geborene Kind etwa 60 Eizellen befruchtet“ wurden. So kam sie zu dem Schluss, dass die Präimplantationsdiagnostik nicht Verhinderung, sondern Vernichtung erbkranken Nachwuchses und somit auch ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot von Artikel 3, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes ist, der lautet: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit umfasse, so die Enquete-Kommission, nicht das Recht auf genetische Auswahl der Kinder. Es habe seine Grenze am vorrangigen Recht auf Leben und an der Menschenwürde.

Dass das Recht auf Leben durch die Präimplantationsselektion massenhaft missachtet wird, zeigen die Daten der Europäischen Gesellschaft für Humanreproduktion und Embryologie, die als internationale Berufsvereinigung der Reproduktionsmediziner ja nicht gerade eine Lebensschutzvereinigung ist. Aber selbst wenn pro Kind, das die Präimplantationsselektion übersteht, nicht 33, sondern nur ein Embryo getötet würde, wäre die Präimplantationsselektion ein Verstoß gegen das Recht auf Leben.

Die Präimplantationsselektion ist, wenn sie denn legalisiert wird, ein großer Schritt in die eugenische Gesellschaft. Sie setzt werdende Eltern dem Druck aus, die Gesundheit ihrer Kinder zu garantieren. Von Eltern behinderter Kinder wird eine Rechtfertigung erwartet, warum sie von den diagnostischen Möglichkeiten zur Vermeidung der Geburt keinen Gebrauch gemacht haben. Von der Ausdehnung der Präimplantationsselektion auf eine Screening-Methode im Rahmen der künstlichen Befruchtung träumte schon der Pionier der In-Vitro-Fertilisation und Träger des Medizin-Nobelpreises 2010 Robert Edwards, der auf einem Kongress in Stuttgart 1997 den eugenischen Nutzen der künstlichen Befruchtung pries.

Edwards Traum aber ist der Albtraum jedes Demokraten, weil eine Demokratie die prinzipielle Gleichheit der Menschen voraussetzt. Die prinzipielle Gleichheit der Menschen wiederum erfordert, dass wir alle den gleichen natürlichen Ursprung haben und dass nicht die einen die Geschöpfe der anderen sind. Die Präimplantationsselektion zerstört die Symmetrie der Beziehungen, die dem demokratischen Rechtsstaat zugrunde liegt. Den Weg in eine eugenische Gesellschaft kann nur ein Verbot der Präimplantationsselektion verhindern.

 

IM PORTRAIT

Prof. Dr. Manfred Spieker

Prof. Dr. Manfred Spieker, geboren 1943 in München, ist Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück.